Kapitel 72 "Vom guten Eifer, den die Mönche haben sollen"

Das erste Merkmal des guten Eifers, der uns zu Gott und zum ewigen Leben, zur Erfüllung unseres Lebens führt, besteht darin, dass die Mönche einander in gegenseitiger Achtung zuvorkommen (72,3). Der heilige Benedikt zitiert hier den Brief des heiligen Paulus an die Römer (12,10). Das Thema des Respekts der Achtung vor den Brüdern und allen Menschen kommt in der ganzen Regel immer wieder vor. Es ist bemerkenswert, dass von den elf Anwendungen des Wortes „Achtung, Ehrfurcht“ oder achten in der Regel sich nur deren zwei ausschließlich auf Gott beziehen: das wir uns erheben sollen beim Gloria Patri „aus tiefer Ehrfurcht vor der heiligen Dreifaltigkeit“; und im selben Sinn, dass bei der Lesung des Evangeliums am Ende der Vigilien des Sonntags „alle in Ehrfurcht stehen“.

Alle anderen Anwendungen dieses Begriffs beziehen sich auf die menschliche Person.
Wir leben heute in einer Kultur, oder vielmehr in der Dekadenz einer Kultur, in der das Wort
„Ehrfurcht“ nicht mehr ernst genommen wird. Jemanden ehren, jemanden achten erscheint uns als servile, formalistische, heuchlerische Haltung; wir beugen uns dieser Forderung nur widerwillig oder wenn wir ein bestimmtes Interesse verfolgen.

Der Mensch unserer heutigen Gesellschaft hat ein enormes Bedürfnis nach Ehrfurcht und Achtung. Indem wir verweigern oder vernachlässigen, wessen er bedarf, schaden wir der ganzen Gesellschaft. Wenn wir dagegen auch nur einer einzigen Person die ihr gebührende Achtung schenken, verändern wir die Gesellschaft wie eine stille Revolution. Alles verändert sich, wenn auch nur einer einzigen Person die Ehrfurcht erwiesen wird, die seiner Würde zukommt; alles wird herabgewürdigt, wenn auch nur einer einzigen Person diese Ehrfurcht verweigert wird.

von Generalabt Mauro.Giuseppe Lepori OCist, Rom,